Donnerstag, 20. August 2020 – Sonntag, 23. August 2020
Moods, Zürich
www.moods.ch
Donnerstag, 20. August 2020
John Menoud (Gitarre, Tenorsaxophon, Elektronik), Erwan Valazza (Gitarre), Béatrice Graf (Schlagzeug, Elektronik)
Mit "Within Our Gates" schuf Oscar Micheaux das direkte Gegenstück zu Griffiths notorisch rassistischer Darstellung von Gewalt und Korruption der Schwarzen, indem er eine Geschichte über die furchtbare Ungerechtigkeit und Gewalt erzählt, die Afroamerikaner in einem rassistischen Staat erleiden müssen. Während Griffiths "The Birth of a Nation" (1915) die angeblich durch schwarze Männer bedrohte Reinheit weisser Weiblichkeit inszeniert, zeigt der Pionier afroamerikanischer Filmkunst historisch weit akkurater die versuchte Vergewaltigung einer schwarzen Frau durch einen weissen Mann. Und dass es beim Versuch bleibt, liegt auch nur daran, dass der Mann im letzten Moment gewahr wird, dass es sich um seine eigene Tochter handelt, also die Frucht einer anderen, weit zurückliegenden Vergewaltigung…
Neben den inhaltlichen Umkehrungen konfrontiert Micheaux den Übervater des klassischen Hollywood-Stils aber auch auf der politisch-ästhetischen Ebene, insbesondere mit einer spezifisch anderen Art und Weise der Parallelmontage. Während Griffith damit einen simplen Gegensatz zwischen weisser Tugend und schwarzer Schurkerei präsentiert, verwendet Micheaux ein weitaus komplexeres Editing, um eine allumfassendere Sicht der Dinge auszubreiten, in der unterschiedliche politische Positionen innerhalb sowohl der weissen als auch der afroamerikanischen Gesellschaft zu Wort kommen. Auf formal brillante Weise versucht Micheaux einen kritischen Zuschauer zu bilden, der in der Lage ist, zwischen widerstreitenden und gegensätzlichen sozialen und politischen Behauptungen über das Machtgefüge der Rassenbeziehungen in den USA zu unterscheiden.
Vertont wird dieser für die gesamte Entwicklung einer schwarzen Filmindustrie massgebliche Film von einem improvisierenden Trio aus Genf mit der Schlagzeugerin und Trägerin des Schweizer Musikpreises Béatrice Graf und den beiden Gitarristen John Menoud und Erwan Valazza.
Steamboat Switzerland (Orgel, Elektronik, Bass, Schlagzeug)
Der vielseitige und charismatische Theaterschauspieler und Sänger Paul Robeson erschien erstmals 1925 auf der silbernen Leinwand und dies gleich in einer Doppelrolle: als ein aus dem Gefängnis geflohener falscher Prediger und als sein entfremdeter Zwillingsbruder, ein gewissenhafter Erfinder. Oscar Micheaux’ Film ist eine direkte Kritik an der Macht der Geistlichkeit und stiess auf heftige Gegenwehr von den lokalen und nationalen Zensurbehörden. In New York wurde die ursprüngliche Version des Filmes verboten, weil sie frevlerisch sei und die Zuschauer zu Verbrechen anstifte. Beim zweiten Versuch machte Micheaux durch Zwischentitel und einen Presseartikel klar, dass es sich beim Prediger um einen ausgebrochenen Häftling handelt, der sich als Reverend ausgibt. Als auch diese zweite Fassung abgelehnt wurde, sah er sich gezwungen, fast die Hälfte des Filmes herauszuschneiden, das anstössigste Verhalten des Reverends auf andere Personen zu projizieren und die meisten Szenen zu eliminieren, wo es ums Trinken und Spielen geht.
Aber auch diese gekürzte Fassung zeigt Micheaux’ narrative Stärke, seine Figuren mittels Wechselschnitten zu charakterisieren. Raffiniert ist die Szene, wo zwischen dem gestohlenen Geld in den Händen des falschen Priesters und den bügelnden und Baumwolle pflückenden Händen der Bestohlenen gewechselt wird. Die harte Arbeit, die hier impliziert wird, unterstreicht die Grausamkeit des Diebstahls. Schliesslich ist sie aber auch beredtes Zeugnis von Micheaux’ Glaube an Booker T. Washingtons nicht unumstrittene Ermahnung, dass sich die früheren Sklaven und ihre Nachkommen durch Erziehung und Unternehmungsgeist erheben sollen («lift themselves up») anstatt die Ungerechtigkeit des Rassismus direkt zu konfrontieren. Robesons Zwillingsrolle repräsentiert dabei zwei Archetypen: den Trickster und den Selfmademan. Bei aller Faszination des Bösen lässt der Regisseur keinen Zweifel daran, dass seine Sympathie dem letzteren gilt.
Vertont wird diese erbauliche Geschichte von gesellschaftlicher Mobilität und Selbstverbesserung vom ebenso wilden wie virtuosen Trio Steamboat Switzerland mit Dominik Blum an der Hammond-Orgel, Marino Pliakas am E-Bass und Lucas Niggli am Schlagzeug.
"The Hell-Bound Train is always on duty, and the devil is engineer."
- James & Eloyce Gist
Das beiden Evangelisten James und Eloyce Gist setzten das neue Medium Film als bevorzugtes Mittel für ihr Wanderpriestertum ein. Mit minimalen Mitteln, einer 16mm-Kamera, natürlichem Licht und ohne Tonspur schuf das Paar faszinierende surreale Allegorien, die in Kirchen und Gemeindesälen gezeigt und von einer Predigt begleitet wurden. Ihr erster Film «Hell-Bound Train» erzählt keine lineare Geschichte, sondern ist eine Art Katalog der Frevel der Moderne, eine Dramatisierung der Sünden des Jazz-Zeitalters von der Spielsucht übers Tanzen bis hin zum Alkohol. Geführt wird der Zug vom Teufel selbst, der zuerst die Parade von Lastern Revue passieren und dann den Zug entgleisen und in Flammen aufgehen lässt.
Vertont wird dieser in vielerlei Hinsicht einzigartige Film von der Luzerner Live-Elektronikerin Molekühl und dem St. Galler Bass-Künstler Bit-Tuner, die für diese Vertonung zum ersten Mal zusammenspannen.
Freitag, 21. August 2020
Elgar (Koch-Stoffner-Friedli) (Bassklarinette, Sopransaxophon, Gitarre, Schlagzeug)
Held des seinerzeit sehr erfolgreichen Films «The Flying Ace» (1926) ist Captain Billy Stokes, ein Kampfflugzeugpilot, der voller Stolz vom 1. Weltkrieg zurückkehrt, seine Arbeit als Detektiv einer Bahngesellschaft wieder aufnimmt und einer Verbrecherbande in Sherlock-Holmes-Manier das Handwerk legt. Der Protagonist ist ein Symbol für die Aspirationen, die den Afroamerikanern trotz ihres patriotischen Einsatzes im Krieg im eigenen Land verwehrt blieben. Dass die United States Armed Forces zu dieser Zeit Afroamerikaner als Piloten gar nicht zuliessen, dies änderte sich erst 1940, war dem Publikum im segregierten Kinosaal natürlich schmerzlich bewusst.
Produziert wurde der Film von der Norman Film Manufacturing Company (Jacksonville, Florida), der dritten grossen Gesellschaft neben der Micheaux Film Corporation (Chicago, Illinois) und der Lincoln Motion Picture Corporation (Omaha, Nebraska) der beiden Afroamerikaner George und Noble Johnson. Wobei etwa die Hälfte der über 100 Studios dieses «black underground» (Thomas Cripp) von Weissen geleitet wurden, wie zum Beispiel von Richard Norman. Die Studios halfen sich auch untereinander, um ihre Filme zu vertreiben, anders als Oscar Micheux und George und Noble Johnson adressierte Norman den herrschenden Rassismus aber nicht direkt. Im Gegenteil war er der Ansicht, die «propagandistische Natur» der Filme à la Micheaux sei der allgemeinen Popularität der All-Black Cast Filme nicht förderlich. Er produzierte Komödien, Abenteuer- und Liebesfilme und hielt sich auch nicht zurück, verschiedene Genres zu mischen, um ein grösstmögliches Publikum zu erreichen. Zu einer Zeit als Hollywood weisse Schauspieler in Blackface anstellte, um stereotypisierte Rollen wie Toms, Coons und Mammies zu spielen, wollte Norman den Heroismus, die Stärke und den Edelmut des schwarzen Amerikas präsentieren und erschuf eine Art segregierte Traumwelt, in der Weisse und somit auch Rassismus gar nicht existieren.
Vertont wird der Film vom improvisierenden Trio Elgar mit Hans Koch an Bassklarinette und Sopransaxophon, Florian Stoffner an der Gitarre und Lionel Friedli am Schlagzeug.
By Right of Birth
Harry Grant, USA, 1921, 4 min
Regeneration
Richard Edward Norman, USA, 1923, 11 min
Rev. S.S. Jones Home Movies
Reverend Solomon Sir Jones, USA, 1926, 16 min
Verdict: Not Guilty
James & Eloyce Gist, USA, 1933, 8 min
Heaven-Bound Travelers
James & Eloyce Gist, USA, 1935, 15 min
Lanz & Kocher's Abstract Musette (Plattenspieler, Akkordeon)
Die Überlieferungslage der Filme aus der Stummfilmzeit ist bekanntlich sehr prekär. Und das gilt ganz besonders auch für Filme, die jenseits des Hollywood-Circuit gezeigt wurden. Gut drei Jahre bevor Oscar Micheaux den Entschluss fasste, sich von der Literatur ab- und dem Kino hinzuwenden, gründeten die Brüder George und Noble Johnson die Lincoln Motion Picture Corporation, um gute Filme für ein schwarzes Publikum und insbesondere für die afroamerikanische Mittelklasse zu machen, und wurden so zu den Begründern der sogenannten «Race Films». Die Filme der Gebrüder Johnson waren in erster Linie afroamerikanische Versionen des US-amerikanischen Erfolgs-Mythos und zielten direkt ins Herz der urbanen afroamerikanischen Bourgeoisie.
Der erste Race Film überhaupt war «The Realization of a Negro’s Ambition», der 1916 erschien und von einem Afroamerikaner handelt, der seinen Erfolg im Ölgeschäft sucht und nach diversen Hindernissen auch findet. Der Film ist heute komplett verschollen. Einzig ein vierminütiges Fragment des späteren Filmes «By Right of Birth» (1921) ist bis heute überliefert, ein Film der sowohl Afroamerikaner als auch Native Americans in weitaus besserem Lichte zeigte als der Mainstream der Filme seiner Zeit, einer Zeit in der die Filme lediglich in Kinos für Afroamerikaner gezeigt wurden.
Neben dieser parallel zu Hollywood aufkommenden afroamerikanischen Filmindustrie gab es auch nicht-professionelle Home Movies wie zum Beispiel die Filme des Reverend Solomon Sir Jones, die eine direkte Dokumentation des afroamerikanischen Lebens der Zeit darstellen und zudem zeigen, was Amateur-Filmemacher als wertvoll erachteten, um es auf Film zu bannen.
Ein Kontrast zu diesen Amateur-Aufnahmen bilden die surrealen und religiösen Filme von James und Eloyse Gist, die nach ihrem Feature Film «Hell-Bound Train» (1930) ihren unvergleichlichen Stil mit den Kurzfilmen «Verdict: Not Guilty» (1934) und «Heaven-Bound Traveler» (1935) weiterentwickelten.
Vertont werden dieses heterogene Bouquet an teilweise vom Verfall bedrohten Fragmenten und Kurzfilmen vom Duo Lanz & Kocher’s Abstract Musette mit Joke Lanz an den Plattentellern und Jonas Kocher am Akkordeon.
Saadet Türköz (Stimme), Martin Schütz (Cello), Lionel Friedli (Schlagzeug)
Ein afroamerikanischer Vaudevillian, Sherman H. Dudley, und ein österreichischer Immigrant, David Strakman gründeten 1926 die Colored Players Film Company in Philadelphia und produzierten Filme mit berühmten Theaterschauspielern, denen es verwehrt war, in Hollywood führende Rollen zu spielen, wie zum Beispiel Charles Gilpin. Mit «The Scar of Shame» setzten sie sich mit der Frage der Klasse («caste») innerhalb der afroamerikanischen Gemeinschaft auseinander, also dem Umstand, dass sich die Gebildeteren gegen weniger Gebildete abgrenzten. Die Problematik war zwar nicht zu vergleichen mit der Segregation der Weissen, aber dennoch eine weitere Belastung für viele Afroamerikaner. Weitaus urbaner und herausgeputzter als die meisten anderen «race films» erzählt der Film die Geschichte einer jungen Frau, die auf hinterlistige Weise dazu betrogen wird, ihren Ehemann zu verlassen, und schliesslich Selbstmord begeht, als sie erfährt, dass ihr Ehemann eine Frau aus seiner Klasse heiraten will.
Mit «The Scar of Shame» (1929) endete nicht nur die Ära der Stummfilme, sondern die technologische Entwicklung und die massiv höheren Produktionskosten für die sogenannten «Talkies» bedeuteten auch das Ende für die notorisch unterfinanzierte Colored Players Film Company. Trotz der kurzen Lebensspanne schaffte es die Filmgesellschaft wie auch diejenige von Micheaux, das mediale Bild der Afroamerikaner zu verändern und eine breite Bevölkerungsschicht mit inspirierenden Botschaften, Filmversionen afroamerikanischer Romane und schlichtweg guten Melodramas zu erreichen. Die erniedrigenden Stereotypen und den rassistischen Humor der Minstrel Shows hinter sich lassend, hatte es endlich ein Ausschnitt aus der komplexen Vielfältigkeit des afroamerikanischen Lebens auf die silberne Leinwand geschafft.
Vertont wird der Film vom improvisierenden Trio mit der Sängerin Saadet Türköz, dem Cellisten Martin Schütz und dem Schlagzeuger Lionel Friedli.
Samstag, 22. August 2020
Young Sherlocks – Our Gang Nr. 4
Robert Francis McGowan, USA, 1922, 21 min
Lodge Night – Our Gang Nr. 15
Robert Francis McGowan, USA, 1923, 29 min
Uncle Tom’s Uncle – Our Gang Nr. 50
Robert Francis McGowan, USA, 1926, 28 min
Rose & Bone Cie. (Stimme, Gitarre, Cello, Perkussion, Schlagzeug)
Es ist unmöglich, die häufig peinlichen Stereotypisierungen und rassistischen Karikaturen zu übersehen, die über weite Strecken den Humor von Hal Roach, dem Macher der Reihe «The Little Rascals» ausmachen. Andererseits war die Serie ein Modell einer harmonischen, räumlich begrenzten Integration mit einer sich ändernden Gruppe von Kindern – schwarz, weiss, reich, arm, dünn, dick, mit Sommersprossen etc. – die sich offensichtlich zusammen wohl fühlten. Aus heutiger Perspektive muss man betonen, wie radikal und progressiv der integrationistische Stil der Reihe damals war. Die täuschend subtilen und doch hochausgeklügelten Darbietungen der schwarzen Charaktere – Ernie «Sunshine Sammy» Morrison, Allen «Farina» Hoskins Jr., Matthew «Stymie» Beard und Billie «Buckwheat» Thomas – luden zu subversiven Lesarten ein, die mithalfen, den Angriff auf die rassistischen Jim Crow Gesetze einzuleiten. Erst im Jahre 1954 hob der Oberste Gerichtshof im Fall «Brown vs. Board of Education» die fast hundert Jahre geltende Rassentrennung an den öffentlichen Schulen auf.
Die sowohl bei Afroamerikanern als auch bei Weissen überaus beliebte Serie eröffnete einen flüchtigen Blick darauf, was für schwarze Schauspieltalente möglich sein könnte, wenn die Bewegung gegen Jim Crow endlich den Sieg erringen würde. In der Welt der Serie spielten schwarze und weisse Kinder zusammen, gingen zusammen zur Schule, und machten zusammen allerlei Dummheiten. Die kindliche utopische Vision einer USA zeigte eine verspielte Alternative auf zur ernsten Welt der Erwachsenen. Die Kinder waren derart unschuldig, dass sie in einer Folge sogar eine eigene Version des Ku Klux Klans gründeten, die sogenannten Cluck Cluck Klams. Nicht nur hatte dieser Club auch schwarze Mitglieder, sondern Sunshine Sammy wurde sogar als «Most High Terrible Seccaterry» auserkoren. In Julia Lees Monografie über die Serie «Our Gang. A Racial History of The Little Rascals» (2015) können wir nachlesen, dass die Reaktion des Publikums mehrheitlich grosses Gelächter war, einzig die wirklichen Klan-Mitglieder waren nicht amüsiert.
Auch wenn die Serie das rassistische Erbe der Nation spiegelte, präsentierte sie zugleich eine idealisierte und hoffnungsvolle Vision der Zukunft. Und sie wies voraus auf den Traum von Martin Luther King Jr., “that one day little black boys and black girls will be able to join hands with little white boys and white girls as sisters and brothers.”
Die drei Kurzfilme werden vertont von Rose & Bone Cie. mit dem Sänger und Gitarristen Han Sue Lee Tischhauser, der Ukulele-Spielerin und Perkussionistin Kat Rocket, dem Cellisten Ambrosius Huber und dem Kontrabassisten Daniel Eaton.
Something Good – Negro Kiss
William Nicholas Selig, USA, 1898, 1 min
What Happened in the Tunnel
Edwin Stanton Porter, USA, 1903, 1 min
Uncle Tom’s Cabin
Edwin Stanton Porter, USA, 1903, 24 min
L’Omnibus des toqués blancs et noirs
Georges Méliès, Frankreich, 1901, 1 min
Le cake-walk infernal
Georges Méliès, Frankreich, 1903, 5 min
Sur un air de Charleston
Jean Renoir, Frankreich, 1927, 18 min
Steve Buchanan (Gitarre, Altsaxophon, Live-Elektronik), Nicolas Stocker (Schlagzeug)
Der vor zwei Jahren entdeckte Kurzfilm “Something Good – Negro Kiss” aus dem Jahre 1898 ist das früheste Beispiel afroamerikanischer Intimität im Film. Die durchwegs realistische Darstellung des Paares ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, da sie sich keinerlei problematischer Stereotypisierungen oder Karikaturen bedient, die dann vor allem im frühen narrativen Film virulent werden. Dies wird bereits ersichtlich, wenn man diesen Film mit “What Happened in the Tunnel” von 1903 vergleicht, der den ersten, aber unfreiwilligen Kuss zwischen einem weissen Mann und einer afroamerikanischen Frau inszeniert, und bereits verschiedene Lesarten ermöglicht.
Die beiden Pioniere des narrativen Filmes dies- und jenseits des Atlantiks sind der Franzose Georges Méliès und der US-Amerikaner Edward S. Porter. Mit einer Länge von über 20 Minuten war Porters Version von ”Uncle Tom’s Cabin” (1903) einer der längsten und teuersten amerikanischen Filme seiner Zeit. Porters Tom ist ein weisser Schauspieler in Blackface und der Film ist eher einem sentimentalen Drama als Harriet Stowe, der Verfasserin des Romans verpflichtet. Nichtsdestotrotz sind die Grausamkeiten der Sklaverei für die Zuschauer klar ersichtlich. Weit entfernt von einer schwarzen Ästhetik schaffte es Porter dennoch etwas von der abolitionistischen Leidenschaft von Harriet Stowes Roman in den Film zu packen.
In ”L’Omnibus des toqués blancs et noirs” (1901), einem kuriosem Trickfilm von Georges Méliès, wechseln die vier Passagiere des Omnibus mehrmals von Schwarz zu Weiss und wieder zurück, dann lösen sich drei von ihnen in Luft auf und schliesslich sprengt der Chauffeur den letzten in Slapstick-Manier in die Luft. ”Le cake-walk infernal” (1903) wiederum ist eine der frühesten filmischen Auseinandersetzungen mit dem sogenannten Cakewalk, einem Tanz, der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Sklavenhaltergesellschaft im Süden der USA entstand und um die Jahrhundertwende auch in Europa Furore machte. Seltsamerweise handelte es sich dabei um einen von Sklaven erfundenen Tanz, der sich eigentlich über die weissen Sklavenhalter lustig machte, die sich dessen aber nicht bewusst waren. Oder in Amiri Barakas Worten: "If the cakewalk is a Negro dance caricaturing certain white customs, what is that dance, when, say, a white theater company attempts to satirize it as a Negro dance? I find the idea of white minstrels in blackface satirizing a dance satirizing a dance satirizing themselves a remarkable kind of irony--which, I suppose, is the whole point of minstrel shows."
Jean Renoirs surrealistisch-postapokalyptischer Kurzfilm ”Sur un air de Charleston” schliesslich ist eine karnevaleske Auseinandersetzung mit dem Charleston Dance Craze im Paris der 1920er. Der in nur drei Tagen gedrehte surreale, erotische Film zeigt eine weisse Eingeborene, die einem futuristischen afrikanischen Piloten den Charleston beibringt. Gespielt wird der afrikanische Ethnologe, der die seltsamen Gebräuche der Franzosen kennenlernen will, vom berühmten afroamerikanischen Vaudeville-Performer Johnny Hudgins in Blackface.
Vertont werden die Filme vom Saxofonisten, Gitarristen und Stepptänzer Steve Buchanan und dem Schlagzeuger Nicolas Stocker.
Thomas Rohrer (Rabeca, Sopransaxophon), Jan Mikael Szafirowski (Gitarre), Fabio Freire (Perkussion)
Josephine Baker war nicht nur der erste schwarze Superstar überhaupt, sondern sie war auch die erste schwarze Frau, welche die Hauptrolle in einer grossen Filmproduktion spielte, nämlich als Papitou in «La Sirène des tropiques» aus dem Jahre 1927. In den zwei Jahren, die sie bereits in Paris war, hatte sie die Stadt im Sturm erobert. Natürlich war sie sich sehr bewusst, dass sie für das Pariser Publikum das Wilde und Primitive verkörperte, welches in der Musik, im Tanz und in den bildenden Künsten hoch im Kurs stand. Und sie verstand es bestens, mit diesen Fantasien und Erwartungen zu spielen, indem sie die Metropole und das Koloniale auf derartige Weise zusammenfügte, dass geographische und rassebezogene Vorurteile subvertiert oder zumindest verwirrt wurden.
Der Film spielt in der Metropole Paris und in der fiktionalen tropischen Kolonie Monte Puebla, die aus einer Vielzahl kolonialer Stereotypen zusammengesetzt ist. Der Name suggeriert eine spanische Kolonie, die Strohröcke und -dächer verweisen auf einen polynesischen Einfluss und die Kleider könnten aus diversen Kulturkreisen stammen. Als der junge Ingenieur André Berval in der Kolonie ankommt, trifft er die einheimische Frau namens Papitou, welche sich prompt in ihn verliebt, ohne zu wissen, dass seine Verlobte in Paris auf ihn wartet. Als Berval nach Paris zurückkehrt, folgt Papitou ihm zuerst, realisiert aber bald, dass er wirklich nur seine Verlobte liebt, und findet ihre Berufung als Tänzerin in einer Music Hall.
Der Film war ein grosser Erfolg in Frankreich und ganz Europa und festigte ihren Ruf als «La Baker», ein Ehrentitel, der ihr in ihrem segregierten Heimatland lange Zeit verwehrt blieb: “I have walked into the palaces of kings and queens and into the houses of presidents. And much more. But I could not walk into a hotel in America and get a cup of coffee, and that made me mad.” Besorgt verfolgte sie den grassierenden Antisemitismus und Rassismus in Europa und arbeitete ab 1940 – sie hatte unterdessen die französische Staatsbürgerschaft erhalten – für die Résistance und den französischen Geheimdienst im Kampfe gegen den Nationalsozialismus. In den USA weigerte sich Baker dezidiert, vor segregiertem Publikum aufzutreten. Erst 1951 wurden ihre Bedingungen akzeptiert und sie trat vor einem begeisterten Publikum in Florida auf.
Vertont wird der Film vom in São Paulo wohnhaften Rabeca-Spieler Thomas Rohrer, vom Gitarristen Jan Mikael Szafirowski und dem Perkussionisten Fabio Freire.
Sonntag, 23. August 2020
None Of Them (Stimme, Elektronik)
«The Symbol of the Unconquered – A Story of the Ku Klux Klan ist einer der drei erhalten gebliebenen Stummfilme von Oscar Micheaux, dem grossen Pionier des afroamerikanischen Filmes, den der Kritiker James Lewis Hoberman mit der Bedeutung von André Breton für den Surrealismus vergleicht: «Micheaux is America’s Black Pioneer in the way that André Breton was Surrealism’s Black Pope.» Ganz anders als bei D.W. Griffith, wo der Ku Klux Klan als Retter der Nation und Befreier des Weissen auftritt, erscheint der Klan bei Oscar Micheaux unter der Bezeichnung «Knights of the Black Cross» als eine Bande gewöhnlicher Gauner, die Gewalt und Einschüchterung einsetzen, um das wertvolle Land eines Afroamerikaners zu entreissen. Eine Reklame für den Film lautete: «See the Ku Klux Clan in action – and their annihilation.»
Leider ist genau ein Teil dieser Szenen der Zeit zum Opfer gefallen und nicht erhalten geblieben. Der Grossteil des Filmes ist zum Glück gut erhalten geblieben und einige eingeschobene Zwischentitel helfen, dass man der Geschichte gut folgen kann. Protagonistin ist die hellhäutige Afroamerikanerin Eve Mason, die ein bedeutendes Grundstück im Nordwesten erbt. Dort trifft sie auf ihren neuen Nachbarn Van Allen, ein Afroamerikaner, der nicht bemerkt, dass Eve auch Afroamerikanerin ist. Sie freunden sich an und er hilft ihr, sich in ihrem Häuschen einzurichten. Als eine Bande von Gaunern in Erfahrung bringt, dass unter Van Allens Grundstück grosse Ölreserven lagern, setzt sie alle Hebel in Bewegung, um ihm das Land zu entwenden.
Vertont wird der Film von None of Them mit dem Elektroniker Michal Holy und dem Bassisten Flo Götte.
Tout Bleu (Stimme, Gitarre, Cello, Keyboard, Elektronik)
Am Ufer des Genfersees formierte sich in den späten 1920er Jahren eine Gruppe von Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern zur Pool Group. Neben dem progressiven Filmjournal “Closeup” ist ihr grösstes Vermächtnis der inhaltlich und formal bahnbrechende experimentelle Stummfilm “Borderline” (1930). Der in der Schweiz gedrehte Film zeigt eine Gruppe liberaler und hedonistischer junger Leute, die sich für die in Europa aufkommende afroamerikanische Kultur interessieren. Im Zentrum steht eine unheilvolle afroamerikanisch-europäische Dreiecksgeschichte und ihre Auswirkung auf die lokale Bevölkerung am Lac Léman. Während die Europäer allesamt in negativem Licht erscheinen, als Inbild von Bosheit, Korruption und Dekadenz, symbolisieren die beiden Afroamerikaner Pete und Adah, gespielt vom Sänger und Schauspieler Paul Robeson und seiner Frau Eslanda Robeson in ihrer ersten Filmrolle, durchgehend Tugend, Reinheit und Natürlichkeit. In ihrem Tagebuch über die Erfahrung der Dreharbeiten schreibt Eslanda Robeson, dass beide immer wieder so laut lachen mussten über die naiven Vorstellungen der Filmemacher von Schwarzen, dass sie ihr Makeup vor lauter Tränen ruinierten.
Wenige Jahre später schrieb sich Paul Robeson in der School of Oriental and African Studies (SOAS) der University of London ein und begann ein breitangelegtes Studium der afrikanischen Sprachen. Neben Sprachen wie Französisch, Deutsch, Spanisch, Russisch, Chinesisch und Hebräisch, die er sich in wenigen Jahren aneignete, erlernte Paul Robeson eine Vielzahl afrikanischer Sprachen wie Swahili, Zulu, Mende, Aschanti, Igbo, Efik, Edo, Yoruba und Ägyptisch. Sein Studium der afrikanischen Geschichte und ihres Einflusses auf die Kultur fiel zusammen mit seinem Essay «I Want to be African», in dem er sein Bedürfnis beschrieb, sich zum Erbe seiner Vorfahren zu bekennen. Ähnlich wie der Pan-Afrikanist und Sozialist W.E.B. Du Bois verstand es Robeson, nationalistische und sozialistische Bestrebungen als komplementäre Anliegen zu vereinen. Für den Rest seines Lebens setzte er sich für die Wertschätzung des afrikanischen Erbes sowie für die Linderung der Unterdrückung unabhängig der Hautfarbe der Betroffenen ein.
Um den Leuten zu helfen, die Psychologie der Unterdrückten zu verstehen, verglich Robeson in einer Engführung von Rasse, Klasse und Geschlecht die seelischen Erfahrungen der Schwarzen mit denjenigen europäischer Juden, ausgebeuteter Arbeiter und unterdrückter Frauen: “All those people will understand what it is that makes most Negroes desire nothing so much as to prove their equality with the white man – on the white man’s ground.” Auch wenn diese Gruppen vielleicht Mitgefühl mit der Not der Schwarzen hätten, würden viele nicht realisieren, dass derselbe Impuls, der sie dazu treibe, diejenigen mit dem erwünschten Status zu kopieren, gerade das auslösche, was am wertvollsten sei, nämlich die Persönlichkeit, welche sie einzigartig mache.
Vertont wird der Stummfilm vom Genfer Trio Tout Bleu mit der Sängerin und Multiinstrumentalistin Simone Aubert, der Cellistin Naomi Mabanda und dem Elektroniker POL.
Niton (Cello, Synthesizer, Elektronik)
«Eleven P.M.» ist ein Film, der mindestens so bizarr ist, wie das Poster, das ihn bewirbt. Darauf sieht man einen afroamerikanischen Mann, der von einem Hund mit einem Frauenkopf angegriffen wird. Durch das Fenster hindurch sieht man schwebende Totenköpfe. Und die Uhr an der Wand, in der eine Leiche ersichtlich ist, zeigt genau 23 Uhr an. Der Film wurde vom wenig bekannten afroamerikanischen Filmemacher Richard Maurice gedreht, der den Film produziert, das Drehbuch verfasst und Regie geführt hat und auch noch die Hauptrolle spielt.
Der Film setzt ein mit dem Schriftsteller Louis Perry, der sich verpflichtet hat, um 23 Uhr ein Kapitel seines Romans abzugeben. Zudem will ein Bekannter von ihm, dass er um 23 Uhr an einem Wettstreit teilnimmt. Schliesslich wollen seine Freundin und seine Mutter, dass er um 23 Uhr an eine Party kommt. Diese widerstreitenden Termine scheinen den Autor nicht weiter zu bekümmern und er schläft mit seinem Hund im Schoss ein.
In diesem surrealen Melodrama, einem frühen Beispiel eines Independent-Autorenfilmes, versucht der Protagonist, ein Violinist namens Sundaisy, ein Waisenmädchen vor einem Kleinkriminellen zu beschützen. Bis zuletzt wird nicht klar, ob die Geschichte lediglich ein Traum ist. Unbestreitbar ist, dass die Schlussszene des Films eine der bizarrsten Szenen der Filmgeschichte überhaupt darstellt. Ein vom Geiste des verstorbenen Sundaisy besessener Hund rächt sich am Gauner.
Vertont wird diese nahezu unbekannte Perle eines Horrorfilmes vom Tessiner Trio Niton mit Zeno Gabaglio am Cello und den beiden Elektronikern El Toxique und Luca Martegani.
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